Militärmusik

Von

H. H. Stuckenschmidt


Der Brauch, mit klingendem Spiel in die Bataille zu ziehen, ist sehr alt. Ja, die Ursprünge der Musik sind untrennbar mit dem Material des Jagd- und Kriegshandwerks verknüpft. Aus der schwingenden Saite des Bogens, wenn der tödliche Pfeil ihm entschleudert ist, entsteht die Gattung der Zupf-Instrumente. Das älteste und größte Symbol liefert das Alte Testament, wenn es die Befestigungen von Jericho unter dem Erzklang der Posaunen zusammenbrechen läßt. Nicht die akustische Wirkung erschüttert hier Mauern, sondern die moralische, die in den Herzen der Truppe "cette généreuse exaltation, cette sublime intrépidité" zu wecken vermag, "qui fait les héros et assure la victoire". Der Straßburger Johann Georg Kastner, ein Zeitgenosse der Romantiker und tüchtiger Erforscher populärer Musik, hat in seinem "Manuel Général de la Musique Militaire" als erster diese Wirkungen untersucht und dabei die zitierten Wendungen gebraucht. Sein Buch, obgleich 1848 erschienen, ist bis heute das wichtigste Quellenwerk der Musica militans geblieben. Er verfolgt sie bis in ihre Anfänge, historisch und philosophisch, er beschreibt die Trompetensignale, von denen die Bibel spricht, nennt Ägypten und Hellas, dringt über Rom ins Europa des Mittelalters und der Kreuzzüge vor und liefert eine genaue Geschichte der neuzeitlichen Militärmusik. Seine Grundthese ist in dem Satz zusammengedrängt: "Was vor allem die Musik als eine Kunst von hervorragender Nützlichkeit erscheinen läßt, ist ihre außerordentliche Fähigkeit, kriegerische Gefühle zu entfesseln, Mut zu wecken, Tapferkeit zu erregen."

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Die Tradition der heutigen Militärmusik geht sehr weit zurück. Ein großer Teil der Regimentsmärsche zeigt die Merkmale bedeutenden Alters; die produktivste Zeit dürfte der Dreißigjährige Krieg gewesen sein, aus dem ja auch eine Anzahl heute noch gebräuchlicher Soldatenlieder stammt. Im Mittelalter bildet die Heermusik Zünfte von höchstem Ansehen; der damalige Militärmusiker stand gesellschaftlich weit über dem Virtuosen späterer Zeiten. Mozart und Haydn hatten Anstellungsverträge, die ihnen Lakaienrang zuwiesen; sie mußten an der Dienstbotentafel essen. Hingegen waren die mittelalterlichen Zünfte der Hof- und Feldtrompeter sowie der Heerpauker "ritterlich frei"; die Mitglieder der späteren "Cameradschaften" standen im Rang höherer Offiziere. (Heute ist es verschieden. Einige Länder stellen ihre Militärmusiker als Beamte an, also ohne militärischen Rang. Bei einigen haben die Dirigenten Offiziersrang, vom Leutnant bis zum Hauptmann. In Deutschland ist der "Musikmeister" eine Feldwebelcharge.) Ein Reflex dieser bevorzugten Stellung war der 1871 von Kosleck in Berlin gegründete "Bläserbund", eine Korporation von 1OO ausgezeichneten Musikern, die unter dem Protektorat des Kaisers stand und als solche bei gewissen Festlichkeiten die Person des Monarchen vertrat. Das junge deutsche Kaiserreich war überhaupt reichlich mit musikalischen Symbolen bedacht worden. Zwar hatte Richard Wagner für seinen als Siegesmusik und Nationalhymne geplanten Kaisermarsch 1871 wenig Gegenliebe bei den zuständigen Stellen des Reichs gefunden, obwohl das Stück es an Zündkraft mit den meisten patriotischen Musiken der Deutschen aufnehmen kann. Man zog es vor, den Kaiser nach der Versailler Proklamation mit den schmetternden Fanfaren des Hohenfriedbergers zu ehren, womit sich freilich auch die Huldigung für einen andern Hohenzoller verband: für Friedrich den Großen, der ihn komponiert hat.
Die wesentlichsten Reformen innerhalb der preußischen Militärmusik waren damals schon durchgeführt. Ihr Vorkämpfer und leidenschaftlicher Anwalt war Wilhelm Friedrich Wieprecht, ein Musiker von Phantasie und bedeutenden technischen Kenntnissen, die er auch im Instrumentenbau betätigte. Von Wieprecht stammt die wichtige Erfindung der Baßtuba, wohingegen sein Prioritätsstreit mit Adolphe Sax, dem Vater des Saxophons, um die Erfindung der Ventilbügelhörner zu seinen Ungunsten entschieden wurde. Dieser ehrenwerte Wieprecht ist sozusagen auf dem Wege des Schocks zu seiner Karriere gekommen; er berichtet darüber selbst: "Als ich in Berlin zum erstenmal (1824) eine vollständig besetzte Infanteriemusik hörte, wurde ich von einem Gefühl ergriffen, von dem ich mir nie habe Rcchenschaft geben können. War es der Rhythmus, die Melodie, die Harmonie oder die Verschmelzung dieser verschiedenen Elemente, die mich so gewaltsam erschütterte? Als ich nun diese Militärkapelle auf ihrem Hinmarsch zur Wachtparade verfolgte und dort in geschlossenem Kreise die Ouvertüre zu Mozarts Figaro spielen hörte, da wurde es in meinem Herzen zum festen Entschluß, mich von nun an dem Fache der Militärmusik ausschließlich zu widmen."
Das hat er getan. Er starb 1872 in hohen Ehren als Direktor der Garde-Musikchöre. Seine Reform, das "System Wieprecht", war eine Art Quellenrekonstruktion. Er kämpfte gegen die Gleichmacherei der Militärmusik-Arten. Die Infanterie, so lehrte er, soll im wesentlichen Signalhörner benutzen, der Kavallerie gebühren die leichten Trompeten, wohingegen die Jäger Anspruch auf Waldhörner begründen können. Ein besonderes Verdienst hat sich Wieprecht außerdem durch die Bearbeitung der Beethovenschen Symphonien für Blasorchester erworben.

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Militärmusik ist, von Signalen und Biwakliedern abgesehen, ausnahmslos Marschmusik. Sie ordnet den Schritt gleichgerichteter Menschentrupps, sie beflügelt den Gang und erleichtert Strapazen. Auch Pferde reagieren übrigens auf die Macht der Marsch-Rhythmen. Alle Militärmusik trägt, melodisch und rhythmisch, sehr ausgeprägten Nationalcharakter. Am deutlichsten wird das im Tempo ausgedrückt. Das Verhältnis ist bemerkenswert; Kalkbrenner teilt es, nach einer 1883 ausgeführten Umfrage, genau mit. Am trägsten marschieren die Japaner mit 11O Schritten in der Minute. Der deutsche Paradeschritt bringt es auf 112, österreich auf 115 bis 118, Bulgarien, Holland, Schweden, Spanien und die Schweiz auf 116. Der Geschwindschritt der französischen, italienischen, belgischen und englischen Parade beträgt 12O, der des zaristischen Rußland gar bis zu 124 in der Minute. Die Zusammensetzung wird geringfügigen nationalen Abwandlungen unterworfen. Wenn man von exotischen Spezialitäten wie dem schottischen Dudelsack-Chor absieht, ist nur erwähnenswert, daß Frankreich und Belgien schon seit Jahrzehnten, längst vor seiner Entdeckung durch die Jazzmusik, das Saxophon im Quartett besetzten (Sopran, Alt, Tenor und Bariton). Als einfachste Marschbesetzung für unbegleitetes Melodiespiel gilt überall der Trommler- und Pfeiferchor; die großen Kapellen verwenden oft bis zu sechzig Mann mit allen Abarten der Holz- und Blechbläser.

Wir dürfen uns, wenn wir feststellen, daß die deutschen Militärkapellen (Deutsch-Österreich eingeschlossen) die besten der Welt sind, auf das Gutachten Jean Jacques Rousseaus berufen, der in seinem Musiklexikon sagt: "Von allen europäischen Truppen haben die Deutschen die besten Instrumente; ihre Märsche und Fanfaren machen einen bewunderungswürdigen Eindruck." Hand aufs Herz, wer von uns hat nicht als Junge mit Begeisterung die Militärmusik vorbeiziehen sehen, welcher Musikliebende könnte sich der Wirkung dieser elementaren Rhythmen und klaren Melodien verschließen?

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Zu den schönsten und ältesten Märschen rechne ich den Dessauer. Seine lapidare Einfachheit liegt nicht nur in dem altertümlichen Fehlen des langsamen Mittelsatzes, des sogenannten Trios, sondern vor allem in der konsequenten Verwendung des punktierten Rhythmus, der als Steigerungsmittel benutzt wird, indem er den Taktort wechselt. Sein Aufbau ist von wahrhaft spartanischer Art; die Viertaktgruppe



wird wiederholt, ihr folgen vier Takte, die von der Dominante in die Tonika zurückmodelieren



und ebenfalls wiederholt werden. Wieviel Echtheit und musikalische Wirkung mit so wenig Aufwand! Es ist übrigens der typische Trompetenmarsch, wogegen der Marsch der Freiwilligen Jäger aus den Befreiungskriegen (Heeresmarsch II, 239) trotz der Wieprechtschen These ausgesprochenen Holzbläser-Charakter zeigt. Die altpreußische Tradition hat ihren großrtigsten musikalischen Ausdruck in den Märschen Friedrichs des Großen gefunden, vor allem im Hohenfriedberger. Dieses Juwel der Marschliteratur ist wie der Dessauer ein C-dur-Stück und auch nach dem gleichen Schema gebaut, nur mit verdoppelten Maßen. Acht Takte, die wiederholt werden,



folgen acht in der Dominante, die ebenfalls wiederholt werden. Übrigens sind diese Märsche, wie fast alle elementaren Rhythmen, Auftaktmelodien; man mißtraue aller Soldatenmusik, die auf dem guten Taktteil beginnt! Eine Fortsetzung der friderizianischen Tradition im strengen Sinne gibt es leider nicht; doch hat das 19. Jahrhundert einen Musiker hervorgebracht, der das musikalische Preußentum sehr kräftig und urwüchsig repräsentiert. Schon der Name des Mannes ist eindeutig, er heißt Gottfried Piefke, und sein Meisterwerk "Preußens Gloria" rechne ich zu den schönsten Märschen der Welt, obgleich manche seinen "Sturm auf die Düppler Schanzen" vorziehen. In diese Reihe gehört, trotz fehlendem Auftakt, der schöne Torgauer Parademarsch, dessen Trio man zu den sublimsten Trompeten-Melodien zählen darf.
Ich weiß nicht, welche Märsche die Österreicher gespielt haben, als sie gegen Preußen die Schlacht bei Torgau verloren; doch soviel ist sicher: die Niederlage wäre ihnen erspart geblieben, wenn damals schon der Radetzkymarsch von Johann Strauß Vater existiert hätte. Das hinreißende Stück ist ein durchaus anderer Typus Soldatenmusik als die ernsten, gleichförmigen Armeemärsche preußischer Art; die graziösen Stakkato-Vorschläge des ersten Themas deuten auf eine leichtere, südlichere Lebensart, die scharfen Modulationen auf Wagemut und rasche Entschlußkraft. Wieviel Kühnheit aber, wieviel kecke Reiterlaune spricht erst aus dem Trio mit seinem blitzenden Sextenaufstieg, dem Triller im vierten und dem Mordent im sechsten Takt!



Ein interessanter Sonderfall ist der beliebte, auch außerhalb österreichs populäre echte Deutschmeistermarsch ("Wir sind vom k. und k. Infanterieregiment"), der den Auftakt verdreifacht.

Dem gleichen österreichischen, mit mährisch-tschechischen Volksliedfloskeln durchsetzten Marschtypus gehört auch Fuciks berühmter Einzug der Gladiatoren an, ein triumphales Stück Musik, über das Peter Altenberg bekanntlich Tränen vergossen und Hymnen der Begeisterung geschrieben hat. Auf österreichische Einflüsse deutet auch das bezaubernde zweite Thema des "Pariser Einzugsmarschs von 1814".



Den Ford der Marschkomposition haben die Vereinigten Staaten in John Philip Sousa hervorgebracht, der kürzlich fast achtzigjährig gestorben ist. In ihm verbinden sich spanische und deutsche Elemente zu einer höchst fruchtbaren Synthese. Unter den rund hundert Sousamärschen, die er reisend mit seiner eigenen Kapelle in der ganzen Welt zu propagieren pflegte, hat die "Washington Post" den stärksten Dauererfolg errungen, sie gehört zu den klassischen Werken des Genres.
Alle großen Musiker haben den Militärmarsch geliebt. Von Gustav Mahler weiß man, daß er imstande war, dringende Arbeiten zu unterbrechen, um in hellem Entzücken der Blasmusik zu lauschen. In vielen seiner Kompositionen stehen die Denkmale dieser Liebe; das größte in dem dreiviertelstündigen Marsch, mit dem die 3. Symphonie anhebt. Beethoven hat 1809 "zum Caroussel an dem glorreichen Namensfeste Ihrer kais. kön. Majestät Maria Ludovika in dem kais kön. Schloßgarten zu Laxenburg" zwei F-dur-Märsche für Militärmusik geschrieben, deren erster als Marsch des Yorckschen Korps 1813 berühmt geworden ist. Mehr lyrischer Art, doch von unwiderstehlichem melodischen Reiz, sind die Schubertschen Militärmärsche, besonders der erste berühmte in D-dur. Wie leicht übrigens klassische Musik in den Verdacht der militanten Absicht kommen kann, beweist der Fall jenes alten französischen Soldaten, der im Konzert beim Eintritt des C-dur-Themas im Finale der Beethovenschen Fünften laut ausrief: "Vive l'Empereur!"

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Der modernste Typus ist Marschmusik mit gesungenem Text. Zwar haben die jungen Musiker des Donaueschinger Kammermusikkreises für die Fürstenbergsche Militärmusik Kompositionen geliefert, von denen Hindemiths Variationen über "Prinz Eugen, der edle Ritter" den Vogel abschossen. Aber die Liebe des Volks gilt den Kampfliedern für soldatische Verbände aller politischen Richtungen. Auch hier ist also die Idee des "aktiven Musizierens" eingedrungen; man will nicht nur hören, sondern selbst mitsingen. Die Form und Gestaltenwelt dieser politischen Gesänge ist ohne das Vorbild des Militärmarschs nicht zu denken. Als rhythmisches Novum sind die eingeschobenen Verkürzungen zu buchen, Zweivierteltakte in Vierviertelstücken, die dem formalen Aufbau einen irrationalen Zug von Überraschung, Aufruhr und gebändigter Regelwidrigkeit verleihen.



Aus: DER QUERSCHNITT, 13. Jahrgang, Heft 4, Ende April 1933