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Bernward Reul

Peter Weiss und Das Gespräch der drei Gehenden



Reinhard Baumgart schrieb 1963 im Merkur1: Peter Weiss „geht eigensinnig in jeder Publikation einen neuen Weg. Genauer: er scheint neue Gehweisen nur zu erproben und denkt nicht einmal daran, die jeweils neue Strecke auch auszulaufen bis zum Horizont. So sehen sich alle Mitlesenden in die Widersprüche dieser, noch keiner Manier verpflichteten Entwicklung mit hineingezogen und Verwirrung ist nicht ausgeblieben."
Auch Das Gespräch der drei Gehenden erscheine verwirrend. „Wer von den dreien jeweils spricht, wird nirgends kenntlich gemacht und läßt sich nachträglich höchstens als Puzzle, mit einem System von Analogieschlüssen eher erraten als bestimmen. Das sogenannte Gespräch jedenfalls verrät sich nur zu bald als eine Serie von fast strikt parallel laufenden Monologen, wenn auch die Parallelen sich zu einem gemeinsamen Muster ergänzen. Und falls sie sich außerdem, wie ja die Mathematik behauptet, im Unendlichen schneiden, dann in der Person des Autors selbst. Spätestens dann würde deutlich, daß hier gar kein Erfahrungsaustausch zwischen drei Gehenden stattfindet, ja nicht einmal drei, sondern nur ein einziger Monolog vorwärtsschreitet".
Bei aller Hellsicht kommt Baumgart dann allerdings zu dem bedenklichen Schluß, daß sich im Gespräch „Weiss' Freude am Probieren, ohne sich allzusehr festzulegen (...) selbst zum Thema aufgeworfen" habe; letztlich teile das Fragment „nicht mehr mit als den freien Selbstgenuß der Mittel, die Geistesgegenwart des Erzählers und Stilisten" und könne „nicht mehr sein als Probe aufs Werk".
Bedenklich ist der Schluß, den der Kritiker bei seinem frühen Versuch, einem disparaten Werk das Innerste abzugewinnen zieht insofern, da im Hinblick auf Peter Weiss von einer „Freude am Probieren" 1963 die Rede nicht sein konnte, schon gar nicht von einem „freien Selbstgenuß der Mittel". Zudem will uns das Wort von der „Probe aufs Werk" fraglich erscheinen, denn wir glauben sehr wohl, daß Peter Weiss eigentlich daran dachte, „die jeweils neue Strecke auch auszulaufen bis zum Horizont".

1.

Daß das „Fragment, geschrieben 1962"2 durch den Schriftsteller letztlich nicht auf den Punkt gebracht wird, braucht nicht unbedingt als Defizit vermerkt zu werden:
„Die kompositorische Geschlossenheit wird durch den fehlenden Schlußpunkt nur scheinbar aufgehoben. Sie ergibt sich durch den wörtlichen Bezug des letzten Satzes auf den Anfang."3
Räumen wir an dieser Stelle jedoch den Nuancen dieses Bezuges einen Platz ein, so kann man feststellen, daß die anfängliche Behauptung des Erzählers: „Es waren Männer die nur gingen gingen gingen" im Verlauf des Textes dem Faktum des Comment c'est gewichen ist, welches einer der drei Gehenden am Rande des Nichts bestätigt, nämlich „hier, wo wir jetzt gehen, wo wir gehen gehen gehen".
Dieses Faktum, daß es ist Wie es ist4, hätte der Autor nun seinerseits durch einen abschließenden Punkt bestätigen dürfen, ohne den Leser dadurch seiner Einsicht zu berauben, daß es möglich sei, das Gespräch „dort fortzusetzen, wo es jetzt ausklingt, mit dem Ton, daß es eben zu jedem beliebigen Zeitpunkt weiter geführt werden könnte"5.Selbst wenn man die keineswegs leichtfertig behauptete „kompositorische Geschlossenheit" des Werkes in Frage stellen möchte, so hätte sich Peter Weiss doch zweifellos darüber glücklich schätzen dürfen, daß das Gespräch zum Fragment wird an eben dieser Stelle, wo die erzählten Figuren ein für allemal ihre „freilich unleugbare Existenz"6 behaupten. Dies umso mehr, da Abel, Babel und Cabel, - so sind die Herren geheißen7- in den dreißig Geschichten, die sie bis dahin bereits zum besten gaben, keine wesentliche Positionsverschiebung in bezug auf eine Annäherung ihrer Standpunkte vorzunehmen wußten und von daher „die generelle Lage der drei Männer, wie sie von dem allwissenden Erzähler am Beginn beschrieben wird, an dem (zufälligen) Ende des 'Gesprächs' noch die Gleiche ist, wie sie es zu jedem Zeitpunkt seit dem Zusammentreffen der Gehenden war und", wie Helmut Lüttmann spekuliert, „es auch noch in einer zu vermutenden Zukunft sein wird"8. Anstatt Annäherung zu erstreben, ergehen sich die Gehenden schließlich von Anfang an im Widersprüchlichen, welches nicht auf Dialog, sondern auf voneinander gesonderten Erfahrungsebenen zu fußen scheint. 9
Man mag geneigt sein, den ausgebliebenen Punkt zunächst in etwa dahingehend verstehen zu wollen, daß Peter Weiss „gegen Ende unmißverständlich klarmachen wollte, daß das Gespräch weitergehen kann"10
Die Männer gingen gingen gingen ja nicht nur, wie uns der Erzähler anfangs zunächst noch weiszumachen versucht und wie zu guter Letzt aus berufenem Munde behauptet wird, sondern „sie gingen und sahen sich um und sahen was sich zeigte, und sie sprachen darüber und über anderes was sich früher gezeigt hatte". Ein schier unerschöpflicher Gesprächsstoff zeichnet sich bald schon ab, noch bevor wir uns des monologischen Charakters des Gesprächs der drei Gehenden gewahr werden; ein Gesprächsstoff, der sich nicht nur aus der zu erwartenden Um- und vor allem Rücksicht der Gehenden speist11, sondern auch aus dem, „was in den Taschen der Kleidungsstücke lag, was mit schnellem Griff gezeigt und wieder verwahrt werden konnte", dem sonst Verborgenen.
Daß all dies sich auf 123 locker gedruckten Seiten kaum würde mitteilen lassen, wird dem Leser schließlich zur Gewißheit.
Im Endeffekt erscheint die Leerstelle allerdings überflüssig, weil sie dem Text eigentlich nichts gibt, was nicht ohnehin schon in ihm läge.
Die potentielle Fortsetzbarkeit des Gesprächs gründet sich ja nicht auf dem ausgebliebenen Schlußpunkt, sondern auf dem Reihungscharakter des zweifelhaften Gesprächs, der auch den fragmentarischen Charakter des Buches ausmacht. „Notiz reiht sich an Notiz", sagt Baumgart. Da aufgrund der tendenziellen Unabschließbarkeit eine solche Reihung zwangsläufig einmal beendet werden muß, sollte man meinen, der Autor hätte endlich einen Punkt machen und das Gespräch Gespräch sein lassen können, das ganz darauf angelegt ist, Verwirrung zu stiften, da es offensichtlich zu nichts führt, wie es, nebenbei, von einer „Serie von konzentrierten Augenblicksbildern"12 auch nicht anders zu erwarten ist.
Hatte ein ausbleibender Schlußpunkt zehn Jahre zuvor beim „Mikroroman" des Kutschers eventuell den experimentellen Charakter eines Textes betonen sollen, der nämlich - schenkt man dem Autor Glauben - als „eine reine Sprachübung"13 gedacht war, so stellt sich hier also die Frage, was Peter Weiss beim Gespräch der drei Gehenden zu betonen beabsichtigte: „Nicht nur zum Ende hin", bemerkte Baumgart, „sondern nach allen Richtungen sieht diese Geschichtenreihe offen aus."

2.

Über Dichtung nachzudenken, so heißt es, erfordert einen räumlichen und zeitlichen Abstand von ihr, ein Davor oder Danach, aber kein Dabei.14 Räumlichen und zeitlichen Abstand zu seinen Werken macht Peter Weiss indes für sich ausdrücklich nicht geltend:
„Meiner Meinung nach", sagte Weiss 1964 - etwa anderthalb Jahre nach Niederschrift des Gesprächs - in einem Interview mit Michael Roloff, „ist keines meiner Bücher abgeschlossen, sie sind Teile einer Reihe, die fortgesetzt werden kann." Und so es ist für ihn auch „keineswegs ausgeschlossen, daß ich eines Tages dieses Gespräch fortsetze [...] mit ganz neuen Aspekten."15
Lüttmann bemerkt zurecht, „daß ihm das [...] 'Gespräch' damals [1964] noch immer 'nahestand' und daß er in dessen fragmentarischen Charakter zu jener Zeit noch eine Art Herausforderung zur erneuten Beschäftigung mit ihm sah".16
Allerdings, auch das möchten wir an dieser Stelle bemerken, bedurfte es offenbar eines Enzensbergers, den Schriftsteller Weiss überhaupt darauf aufmerksam zu machen, daß es „möglich [sei], das GESPRÄCH in 10, 15 Jahren dort fortzusetzen, wo es jetzt ausklingt, mit dem Ton, daß es eben zu jedem beliebigen Zeitpunkt weiter geführt werden könnte"17
Diese Tatsache freilich will uns um so merkwürdiger dünken, da allein schon die Das Gespräch der drei Gehenden abschließende Leerstelle für alles Mögliche offen ist und per se eine Fortsetzbarkeit des Gespräches suggeriert. Nichtsdestotrotz bekennt Weiss: „Dieser Gedanke stammt eigentlich nicht von mir".18
Wenn es also erst einer kollegialen Hilfe bedurfte, den Schriftsteller auf die Möglichkeit einer Fortsetzbarkeit des Gespräches zu stoßen, die sich doch so offensichtlich aus dem Text ergibt, so sehen wir uns genötigt, zu vermuten, daß Peter Weiss seinen Text, der nicht nur zum Ende hin, sondern nach allen Richtungen offen zu sein scheint, zunächst, und zwar im eigentlichen Sinne, als abgeschlossen betrachtet hat.
Eine solche Vermutung bringt uns nun allerdings sogleich in die Verlegenheit, nachweisen zu müssen, daß das „Fragment" Anlaß gibt, als abgeschlossen betrachtet werden zu können.
Wenn wir dem nachgehen, lesen wir bei Lüttmann, daß „kein Abschnitt des 'Gesprächs' unvermittelt ab[bricht], vielmehr wird die Erzählung jeweils, wenn auch in verschieden elaborater Weise, dem Ende entgegengeführt; und dieses Ende ist auch niemals vage, verliert sich nicht ins Ungefähre, sondern wird als solches deutlich akzentuiert".19
Gleiches könnte man für das Gespräch selbst geltend machen, das - den ausgebliebenen Schlußpunkt einmal außer acht lassend - drei denkbare „Abschlüsse" findet20, die als solche allerdings zweifelhaft bleiben müssen, zumal der Text, wie Peter Weiss bekundet, von einer grundsätzlichen Unsicherheit geprägt ist:
„Alles, was gesagt wird, wird ständig zurückgenommen, so daß man immerzu zweifelt, was nun wirklich gesagt worden ist. Alles, was gesagt wird, existiert nur im Bereich des Möglichen, aber es könnte ebensogut anders sein."21
Gewiß, daß Das Gespräch der drei Gehenden weitergehen kann, setzt zweifelsfrei voraus, daß Cabel nicht ernst machte mit seiner letzthin bekundeten Absicht: „hier gehe ich, und gleich bin ich weg [...] in diesem Augenblick ein paar Schritte, auf einer Straße, einer Treppe, und schon bin ich verschwunden", Das Gespräch der drei Gehenden wäre sonst nicht mehr das dreier Gehender. Da es möglicherweise seine letzten Worte sind - die Analogieschlüsse lassen dieses vermuten - ist ein Ende dieser Art auch nicht gänzlich auszuschließen. Doch niemand teilt uns mit, ob Cabel „in diesem Augenblick" seine (vielleicht nur so dahergesagte) Absicht, die vielleicht eine, möglicherweise aber auch keine ist, in die Tat umsetzt. Das abschließende „hier, wo wir jetzt gehen, wo wir gehen gehen gehen" läßt das Gegenteil vermuten. Freilich ist es nicht ganz ausgeschlossen, daß Abel Cabels Verschwinden im selbstversunkenen Monologisieren nur noch nicht wahrgenommen hat; an Spekulationen gebricht es uns nicht. Im Grunde zweifeln wir aber gar nicht daran, daß Das Gespräch der drei Gehenden weitergehen könnte.
Führt Abel „einen Mann mit entblößtem haarigen Oberkörper und mit langen rotbraunem Kopfhaar, das an den Seiten zu Zöpfen geflochten war, mit einem wildwachsenden Bart, mit ungeheuren knolligen Armen, die Haut von Tätowierungen überwuchert, mit Stiefeln, die bis über die Knie ragten und an den Kanten umgeschlagen waren, mit silbernen Sporen an den Hacken" ins Feld, der zum Behuf des Gähnens den Mund so weit aufreißt, daß man vereinzelter gelber Zähne ansichtig wird, dann mögen wir uns zwar fragen, warum solche märchenhaften Schilderungen unbedingt einer Fortsetzung bedürfen, aber deshalb ziehen wir doch noch lange nicht die potentielle Fortführbarkeit des Gesprächs in Zweifel.
Es fällt uns also schwer, nachzuvollziehen, daß Peter Weiss diese Fortsetzbarkeit nicht gesehen haben will.
Wir würden es ihm daher allzugerne glauben, wenn er nachträglich - und noch dazu voll von Widerspruch - 1964 im Gespräch mit Roloff behauptet: „Darin liegt der fragmentarische Charakter des Buches, weil ich gegen Ende unmißverständlich klarmachen wollte, daß das Gespräch weitergehen kann."22 Jedoch liegt der fragmentarische Charakter des Buches, wie wir oben aufzuzeigen versuchten, weder im ausbleibenden Schlußpunkt, noch scheint es uns erwiesen, daß Peter Weiss „gegen Ende unmißverständlich klarmachen wollte, daß das Gespräch weitergehen kann"; „Dieser Gedanke" nämlich, so Weiss im gleichen Atemzug, „stammt eigentlich nicht von mir".
Wir hatten uns, weil es uns rätselhaft erscheint, daß Peter Weiss die Fortsetzbarkeit des Gespräches nicht gesehen haben will, die möglichen Abschlüssen zu Gemüt geführt und dabei nur festgestellt, daß diese uns nicht dazu berechtigen, das sogenannte Fragment als abgeschlossen zu betrachten. Den ausbleibenden Schlußpunkt, auf den wir zuvor so sehr instistierten, hatten wir dabei allerdings außer acht gelassen, weil dieser schließlich per se eine Fortsetzbarkeit des Gespräches suggeriert.
Oben bereits hatten wir die Leerstelle am Schluß für den Text für überflüssig erklärt: „Nicht nur zum Ende hin", bemerkte Baumgart, „sondern nach allen Richtungen sieht diese Geschichtenreihe offen aus." In gewisser Weise haben wir also versucht, den ausgebliebenen Schlußpunkt vom Text zu sondern. Wenn wir nun Abstand von der Ansicht nehmen, der ausgebliebene Schlußpunkt markiere eine Fortsetzbarkeit des Gesprächs, dann scheint uns dies nur konsequent. Die Berechtigung dazu meinen wir vorläufig aus der Tatsache ziehen zu können, daß Peter Weiss die Offenheit seines Textes zunächst gar nicht gesehen hat, und dies, obschon er seinen Text gegen Ende absichtlich offen hält. Der sich daraus ergebende Widerspruch ist nur dahingehend zu klären, sagen wir paradoxer Weise, daß der ausgebliebene Schlußpunkt nicht eigentlich dem Text zugehört.

3.

Peter Weiss, befragt zum Gespräch der drei Gehenden, sagte:
„Es ist ein abgeschlossenes Werk, das Fragment bleiben mußte. Es liegt an der Form, daß es zu keinem Ende gebracht werden kann, und es liegt in der Natur des Textes, daß er niemals etwas anderes sein kann als Fragment, weil es ein innerer Monolog ist, und ein innerer Monolog geht so lange weiter, wie man lebt."23
Das Gespräch der drei Gehenden ist - dem Leseeindruck zuwider - demnach nicht, wie Baumgart vermutete, „Probe aufs Werk", sondern Teil eines Werkes, dessen Schlußpunkt in letzter Konsequenz mit dem Tod des Autors gesetzt wird.24
Läßt Peter Weiss dem Gespräch der drei Gehenden, das Otto F. Best lieber „nicht als einzelne für sich stehende Arbeit bewertet wissen" wollte25, eine gleichsam so existentielle Bedeutung zugedeihen, dann wirft das natürlich ein ganz anderes Licht auf einen Text, der vor dreißig Jahren durch eine „verhältnismäßig zweckfreie Laune und eine gewisse Unverbindlichkeit" sogar Baumgart noch zu „entzücken" vermochte.
Die Irritation, die nicht nur Reinhard Baumgart anhand des Gesprächs erfuhr26, ist offenbar Ausdruck einer Irritation, die den Urheber des gewissenhaft kritisierten Monologes befallen hatte. Und wenn dieser erst darauf hingewiesen werden muß, daß sein zu allen Richtungen hin offener Text potentiell fortsetzbar ist, so kann das nur bedeuten, daß Peter Weiss seinen Monolog zunächst als ausweglos begriff.
Sogar dem oben geschilderte Gähnen müssen wir daher in gewisser Weise einen unheimlichen Aspekt zugestehen. Dazu bedarf es allerdings einer Vorausschau.
Nachdem Hanns Anselm Perten 1965 in seiner Inszenierung der Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade die dem Stück innewohnenden „politischen Aussagen behutsam ins Licht gerückt"27 hatte, indem es ihm gelang, aus dem Sadisten de Sade einen Masochisten zu machen, unterzog sich Peter Weiss der nicht zu unterschätzenden Mühe, Marat/Sade noch einmal zu überarbeiten.
Weiss dazu rückblickend (1965): „Dabei habe ich immer mehr Bühnenanweisungen gestrichen, als ich merkte, daß sich die Regisseure freier fühlen und phantasievoller arbeiten, wenn ihnen der Autor nicht immer die Hand führt."28
„Sieh diese verlorenen Revolteure", sagt de Sade. In Berlin (West) zeigte er dabei noch gründlich „auf die vier Sänger, die ausgestreckt auf dem Boden liegen, sich kratzen, gähnen und versuchen, der leeren Flasche noch einen letzten Tropfen abzugewinnen." In Rostock hingegen weist de Sade kurz und knapp „auf die vier Sänger, die wartend dasitzen".
Wie immer man die plötzliche Aufgewecktheit der Sänger deuten mag, vom Gähnen bleibt, nachdem „Marats revolutionäres Prinzip" erstmals gesiegt hatte29, jedenfalls keine Spur, mit dem noch 1962 Das Gesprächs der drei Gehenden seine „zu groteskem Effekt"30 gesteigerte Zuspitzung erfuhr.31
Freilich, das ebenso furchterregende wie „gewaltige Gähnen", von dem Abel dort berichtet, wird im Kontext der sich widersprechenden Geschichten der drei Gehenden seiner schauerlichen Wirkung enthoben. Geht man jedoch davon aus, daß Peter Weiss seinen fragmentarischen Monolog als abgeschlossenen Text betrachtet hat, so gewinnt es am Ende wieder an Bedeutung.
Helmut Lüttmann, der in seiner gründlichen Arbeit unter anderem die im Gespräch der drei Gehenden eingearbeiteten Märchenmotive untersucht, weist darauf hin, daß das Hinausgehen der weiss'schen Protagonisten in die Welt - anders als in den bekannten Märchen der Brüder Grimm - keine Erfüllung mit einer Rückkehr in das Vaterhaus findet. Wir dürfen feststellen, daß das „gewaltige Gähnen" der „riesenhaften Figur" zu Ende des Textes einen nicht unwesentlichen Anteil daran hat, schlägt es doch Abel endgültig in die Flucht, der ergänzend und abschließend berichtet: „Und ich kroch den Weg hinunter und lief atemlos den Uferpfad entlang, hier, wo jetzt Straßen erbaut sind, Brücken und Kaibefestigungen, hier, wo wir jetzt gehen, wo wir gehen gehen gehen". Spricht Lüttmann bezüglich des Gesprächs von einem „Anti-Märchen"32, so können wir dem nur beipflichten.
Bedenkt man nun allerdings, daß Das Gespräch der drei Gehenden zunächst Das Gespräch eines Gehenden mit sich selbst als Arbeitstitel führte, so mögen wir insgeheim bald einen Schrecken erfahren, den uns das Gähnen an sich bei der Lektüre gar nicht einzujagen wußte.
In seinem Notizbuch schreibt Peter Weiss:
„Das Gespräch eines Gehenden mit sich selbst
Während des Gehens sprach ich mit meinen Begleitern, und als es dunkel wurde war nicht mehr zu erkennen, wer von uns sprach, wir hörten nur die Worte eines andern, wir hörten ihm zu, oder wir hörten ihn nicht und dachten an anderes. Wir gingen gingen gingen und sprachen miteinander, oder jeder sprach mit sich selbst, und im Dunkeln wurden die Abstände größer zwischen uns und wir verloren einander aus der Sicht. Wir gehen gehen gehen jeder von uns, und sprechen weiter, jeder für sich, bis wir einmal dem einen und dem andern wiederbegegnen, denn so verzweigt sind die Wege nicht, daß sie uns für immer trennen.[...]"33
In Freuds 31. Vorlesung heißt es:
„Wir wollen das Ich zum Gegenstand dieser Untersuchung machen, unser eigenstes Ich. Aber kann man das? Das Ich ist ja doch das eigentlichste Subjekt, wie soll man es zum Objekt nehmen? Nun, es ist kein Zweifel, daß man dies kann. Das Ich kann sich selbst zum Objekt nehmen, sich behandeln wie andere Objekte, sich beobachten, kritisieren, Gott weiß was noch alles mit sich selbst anstellen. Dabei stellt sich ein Teil des Ichs dem übrigen gegenüber. Das Ich ist also spaltbar, es spaltet sich während mancher seiner Funktionen, wenigstens vorübergehend. Die Teilstücke können sich nachher wieder vereinigen. Das ist gerade keine Neuigkeit, vielleicht eine ungewohnte Betonung allgemein bekannter Dinge."34
Wir dürfen wohl bemerken, daß Peter Weiss kein gesteigertes Interesse daran gehabt haben kann, das Gespräch der drei Gehenden fortgesetzt zu wissen, zumal wenn Weiss bezüglich des Gesprächs glaubhaft versichert: „Irgendwie hat es etwas mit einem zu tun, aber es zerfällt, löst sich immer wieder auf und nimmt neue Bedeutungen an".35 Daß „die generelle Lage der drei Männer, wie sie von dem allwissenden Erzähler am Beginn beschrieben wird, an dem (zufälligen) Ende des 'Gesprächs' noch die Gleiche ist, wie sie es zu jedem Zeitpunkt seit dem Zusammentreffen der Gehenden war"36, kann ja nicht darüber hinwegtäuschen, daß im Gespräch der drei Gehenden „der weitere Verlauf der anfangs so ähnlichen Erzählungen immer deutlicher deren diametrale Gegensätze zutage treten läßt"37 Wenn es also das war, worauf Peter Weiss hinauswollte, so scheint uns „Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit", wie Freud seine Vorlesung betitelte, im Gespräch der drei Gehenden am Ende bereits hinreichend vorwärtsgetrieben.38

4.

Daß Peter Weiss seinerzeit solch eine düstre Problematik thematisierte, aus der dann doch noch ein ganz passables Büchlein erwuchs („Wenn man will, kann man ein bißchen Spaß damit haben."39), kommt nicht von ungefähr.
Noch im September 1962 mußte er notieren: „Kein Erfolg, nichts hilft dir -".40 Peter Weiss hatte seinen jüngsten Prosatext gerade abgeschlossen und wenn man bedenkt, daß Das Gespräch der drei Gehenden in absehbarer Zukunft in einer Erstauflage von 10.000 Exemplaren erscheinen würde (was bedeutet, daß der Verlag große Stücke auf den in Deutschland auch nicht mehr ganz unbekannten Peter Weiss hielt), mag diese Notiz verwundern. Wir vermuten deshalb, daß die Notiz dahingehend zu verstehen ist, daß sie besagt: „Nicht einmal Erfolg hilft dir".
Dieses wiederum ließe auf ein grundlegenden Dilemma schließen, in dem sich Peter Weiss damals offenbar befand und in dessen Licht auch Das Gespräch der drei Gehenden zu sehen wäre.
Ende 1961 notierte Peter Weiss ungewöhnlich hochgemut, wenngleich nicht untypisch für ihn: „Ich befinde mich in den Vorräumen eines Gesamtkunstwerkes, in dem Wort, Bild, Musik, filmische Beweglichkeit untrennbar voneinander sind, in dem es keine einzelnen, abgeschloßnen Stadien gibt, sondern nur ein Fortsetzen, ein Wiederaufnehmen, ein Variieren und Verwandeln von Zeichen meiner Existenz".41
Wir können dem scheinbaren Liebäugeln des Künstlers mit den „zahlreichen Möglichkeiten"42, auch ohne daß wir dabei etwa Goethes Wort erinnern, daß es schließlich die größte Kunst sei, sich zu beschränken und zu isolieren43, nur mit Vorsicht begegnen. Die hochgelobte „Möglichkeit einer totalen Kunst, in der es die Konventionen einer Spezialisierung nicht mehr gibt"44, erweist sich nämlich auf dem ersten Blick als Fluchtpunkt des Schriftstellers, dem es lange nicht vergönnt sein sollte, die Entscheidung zu treffen, „die Welt als Sprache zu sehen".45
„Für mich", hatte Peter Weiss 1961 in seiner „Bestandsaufnahme" notiert, „waren die Ausdrucksmittel nie an eine einzige Kategorie gebunden. Von Anfang an war ich nicht 'Dichter', oder 'Maler', sondern immer alles, auch 'Musiker'. Der Film ergab sich dann aus der Malerei. Immer liegen alle Medien in greifbarer Nähe".46
Später jedoch mußte er sich eingestehen: „Künstlerische Arbeit kann überhaupt erst fruchtbar werden, wenn es für den schöpferischen Menschen eine Realisationschance gibt, wenn es Resonanz gibt."47 Und die war, wie vielerorts nachzulesen, jahrzehntelang spärlich48, wenn nicht sogar ganz ausgeblieben.
Daß der von Erfolg nicht gerade verwöhnte Weiss die einmalige Chance nutzte und sein seit 1952 ins Stocken geratenes Schreiben reaktivierte49, nachdem ein umsichtiger Walter Höllerer das lang herumgeirrte Manuskript des Kutschers 1960 an den Suhrkamp Verlag vermittelt hatte, ist nur zu verständlich: "„Plötzlich bestand eine Publikationsmöglichkeit."50
Dabei mochte der Künstler aus naheliegenden Gründen allerdings nicht vergessen, daß sein Schreiben ja nur von einer seiner vielseitigen Möglichkeiten kündete.
„Als ich [...] mit dem kontinuierlichen Schreiben begann", resümiert Peter Weiss 1970, „waren die Resultate aus einem Vierteljahrhundert künstlerischer Arbeit bereits vorhanden, Bilder, Zeichnungen, Manuskripte, Filme, doch indem sie kaum jemandem mehr als mir selbst bekannt waren, verblieben sie wie ein aufgespeichertes Material von Träumen, Halluszinationen, inneren Monologen, sie hatten nie Konkretion annehmen können, ich hatte mich in ihnen nie zeigen, manifestieren können".51
Hinter der heute zunächst befremdlich erscheinenden weisschen Vorstellung eines „Gesamtkunstwerkes", in deren Vorräumen er sich Ende 1961 wähnte, wird also nicht zuletzt die Hoffnung des Künstlers vernehmbar, sich durch „Sprengung"52 des aufgespeicherten Materials zur Gänze präsentieren zu können.
Die Idee des Gesamtkunstwerkes, der sich in gewisser Weise auch Das Gespräch der drei Gehenden verpflichtet zeigt, ist so gesehen nichts weiter als eine späte Frucht des sogenannten „Logbuches", das der im Exil befindliche Peter Weiss schon 1940, wenngleich unter anderen Vorzeichen, in der Flaschenpost, ausgeworfen von einem, der auf einer Insel im nördlichen Meere haust entworfen hatte.
„Wir wollen unseren Platz auf dieser Erde haben", schrieb der „unter der Vorstellung einer unbedingten Ausdrucksfreiheit"53 Herangewachsene damals. Allein, es schien ihm von vornherein „sinnlos", seine Werke „einmal der Welt zu zeigen".
Denn neben dem Glauben „an eine Wiedererrichtung Europas, an eine Wendung zum Besseren, Menschenwürdigeren, an den Sieg von Humanität und Demokratie", mangelte es dem 24 jährigen Künstler auch an der „Aussicht, in diesem völlig amusischen und stumpfsinnigen und verfressenen und eigensüchtigen Land jemals Erfolg zu haben, jemals Bilder verkaufen zu können, jemals die Gelegenheit zu einer Ausstellung zu finden".54
Durch die widrigen Umstände auf sich selbst verwiesen55, blieb Peter Weiss vorläufig nicht viel andres übrig als „auf den Anbruch eines neuen Tages" zu hoffen.
„Das ist das Schöne, daß ihr nicht mit Prophezeiungen einer besseren Zukunft kommt, daß ihr keine Ziele aufstellt, sondern daß es euch nur darum zu tun ist, die Werte in euch selbst und in eurer Arbeit wieder zu finden", hatte Weiss 1940 daher seinen Freunden ernüchtert geschrieben, „Es ist an der Zeit, dass wir alle Dinge in unser Logbuch schreiben, die uns lieb sind und an die wir glauben. Wir werden viele Blätter dazu brauchen, es wird ein grosses Buch werden!"56
In der Tat.
Bis zum Einsetzen der „kontinuierlichen Bücherproduktion"57 hatte sich das „Logbuch" zu einem stattlichen Werk gemausert, in dem die Literatur freilich nur ein Kapitel ausfüllte. Das literarische Ereignis des Kutschers, mit dem Peter Weiss lediglich versucht hatte, „herauszufinden, wie gut ich mit Sprache umgehen konnte"58, stellte die anderen Aktivitäten des Künstlers in den Schatten und es kommt nicht von ungefähr, daß Peter Weiss 1961 überlegte, wie denn diese, seine Anlagen zur Geltung zu bringen seien.
„Vor mir zahlreiche Möglichkeiten. Nicht nur Möglichkeiten des Schreibens, sondern auch des Films, der Bildnerei. [...] Ich stehe vor der Schwierigkeit der Wahl. Um die richtige Wahl zu treffen, muß ich mir klar darüber werden, was ich sagen will."59
Doch hier genau lag ein nicht unwesentliches Problem.
Wenig bedacht wurde von Peter Weiss nämlich, daß die Möglichkeiten, derer er sich besann, aus „einer fünfundzwanzigjährigen unsteten Suche"60 hervorgegangen waren, und daß sich das „fruchtbare Chaos"61, von dem er 1961 sprach, tatsächlich als furchtbares Chaos entpuppen mußte, zumal der einst auf sich selbst verwiesene Künstler längst die Not zur Tugend und „sich selbst zum Gegenstand der Untersuchung, der Vivisektion"62 gemacht hatte.
Der 17jährige Sigmund Freud hatte in einem Brief an einen Freund geschrieben:
„Ich will Sie nicht auffordern, wenn Sie in irgendwelche zweifelnde Lagen kommen, Ihre Empfindungen unbarmherzig zu zergliedern, aber wenn Sie es tun, werden Sie sehen, wie wenig Sie sicher an sich haben. Die Großartigkeit der Welt beruht ja gerade auf dieser Mannigfaltigkeit der Möglichkeiten, nur ist's leider kein fester Grund für unsere Selbsterkenntnis...".63
Miklos Meszöly schrieb 1967: „Wir haben uns ein Universum erbeutet, aus dem alles Absolute, alle bevorzugten Koordinatensysteme und alle Anhaltspunkte verschwunden sind. Wir haben unsere Unschuld verloren: wir haben für das Absolute kein beruhigendes Angebot mehr, nur einen beunruhigenden Anspruch. Eine derartige Welt zwingt uns verständlicherweise, alle Tatsachen und Tendenzen mitsamt ihren Gegensätzen - wenn es sich so ergeben sollte, mitsamt ihren absurden Gegensätzen - zu berücksichtigen. Unseren zunehmenden Anspruch auf Realität kann allein dieser pausenlose, komplementäre Eklekktizismus des Erlebens und Erfassens befriedigen. Dies kann man tatsächlich nur mit intelligenter Schizophrenie ertragen. Auf diese Weise kann unsere Objektivität nur eine verlängerte Arbeitshypothese sein, die keinen endgültigen Beweis hat. [...] Anstelle des ausgeschalteten Absoluten erschaffen wir uns von Augenblick zu Augenblick das 'Gelegentlich-Absolute', das Modell, das immer bereit ist, sich zu wandeln: die Vorstellung des Augenblicks vom relativ Zeitlosen und Endgültigem."64
So also war in etwa die herausfordernde Gegenwart beschaffen, mit der sich Peter Weiss Anfang der 60er Jahre konfrontiert sah. Das Universum, das sich Peter Weiss im Laufe seiner künstlerischen Tätigkeit erbeutet hatte, zeigte sich jedoch ganz und gar von seiner Person durchdrungen65 und der Anspruch auf Realität mußte sich infolgedessen auf Peter Weiss selbst beziehen.
Für jemanden, der darauf bedacht ist, sein Ich intakt zu halten, wenn nicht gar erst zu gewinnen, stellt die Realität, zumal wenn sie sich chaotisch gebärdet, mehr Anforderungen, als er erfüllen kann.
Da sich Peter Weiss aus aktuellem Anlaß mehr und mehr auf das Schreiben zu konzentrieren begann, war dem nun allmählich alles zugewachsen, was ein Gesamtkunstwerk hätten leisten sollen; die Vorstellung eines „Gesamtkunstwerkes, in dem Wort, Bild, Musik, filmische Beweglichkeit untrennbar voneinander sind, in dem es keine einzelnen, abgeschloßnen Stadien gibt, sondern nur ein Fortsetzen, ein Wiederaufnehmen, ein Variieren und Verwandeln von Zeichen meiner Existenz", in die Peter Weiss Zuflucht gesucht hatte, wuchs sich während des Schreibens von Fluchtpunkt unweigerlich zu einem hypertrophen Anspruch aus.66
Nachdem die erste Fassung des Manuskriptes Fluchtpunkt der Prüfung des Lektors nicht standgehalten hatte, konstatierte Weiss: „Die freundlich-spöttischen Bemerkungen des Lektors hatten mich nicht von der Einsicht meiner totalen Niederlage abbringen können. Die Unsicherheit, die Unzulänglichkeit des Schreibmittels vor dem gestaltlosen Stoff war schon immer zu spüren gewesen."67
Mitte 1962 notiert Peter Weiss - angesichts der behaupteten „Unzulänglichkeit des Schreibmittels vor dem gestaltlosen Stoff", das ihm für seine Zwecke gar zu unsicher68 schien, zunächst doch ein wenig überraschend -: „Nur noch ein einziges Buch schreiben".69
Er hatte sich aber nicht etwa, wie man vermuten möchte, endgültig für das Schreiben entschieden. Vielmehr aktualisierte Weiss mit dieser Überlegung sein altes Konzept des „Logbuches", das er nun zu einem „Gedankenbuch" auszuweiten gedachte. Die Devise „auszuhalten, zu überleben"70, die während der 40er Jahre Peter Weiss aus genannten Gründen bestimmend war, erfuhr dabei eine Metamorphose; das alte Konzept sollte sich auch unter umgekehrten Vorzeichen als brauchbar erweisen. Es galt den Künstler gegenüber den Schriftsteller zu retten - und den Schriftsteller vor der Ungewißheit einer ungesicherten Existenz. Peter Weiss mochte dem Schreiben allein nicht zutrauen, auf die „Fähigkeiten aufmerksam zu machen"71, die für den Künstler eine Voraussetzung darstellten um, wie er es später formulieren würde, den „definitiven Bruch zwischen einer abstrakten entpersönlichten Welt und deren elementarsten menschlichen Ansprüchen"72 aufzuheben. Er verwies das einzelne Werk daher in einen übergeordneten Kontext, womit es des Anspruchs enthoben wurde, für's Ganze zu zeugen. Als definitives Bruchstück wurde es damit wieder handhabbar.
„Das unveränderliche Bruchstück, das nur eine einzige Möglichkeit unter vielen darstellt, muß sich jetzt als selbstständiges Ganzes beurteilen lassen, und seine Teilwahrheit muß als absolute Wahrheit gelten. Und doch sind dies die Voraussetzungen für den Austausch von Verständigungsmitteln, die Universalität, die jedem Ausdruck zugrundeliegt, bleibt unfaßbar, und immer wieder gibt es nur Teilaufgaben, die nach bestimmten Anforderungen gelöst werden müssen. Über die Totalität des Lebens liegt der Stundenplan für kleine Einheiten ausgebreitet, und wenn mir ein Gedankenbuch ohne Anfang und Ende vorschwebt, so kann ich doch nur winzige Abschnitte bearbeiten und als Ornamente zur Schau stellen. Es heißt, daß die fertigen Werke sich wieder zusammenschließen zu einer Reihe, in der das Gemeinsame zu spüren ist, von Buch zu Buch, von Bild zu Bild, und daß es beim Anblick des Zusammenhangs möglich ist, die Verwobenheit und Veränderlichkeit aller Phasen vor Augen zu haben."73

5.

„Ich beschwöre Gegenstände, Tatsachen herauf, um meine Haltbarkeit zu spüren, ich konfrontiere mich mit Gesichten und Worten, um mich zu stellen, um eine Aussage von mir zu gewinnen, in der ich mich erkennen kann"74, hatte Peter Weiss in Fluchtpunkt geschrieben. Das Verlangen, Haltbarkeit zu spüren und das Bemühen, sich zu stellen, um eine Aussage zu gewinnen75, konnte sich aufgrund seines hypertrophen Anspuches damals nur als uneinlösbar erweisen.
Nach der Ablehnung der ersten mißglückten Fassung von Fluchtpunkt geriet Peter Weiss „in den Zustand tiefster Funktionslosigkeit"76, der den konventionellen Schluß des Buches begünstigt haben mag, „das Ende rundete sich wie eh und je zu einer weitläufig humanistischen Schlußformel."77 Ursprünglich war das Buch „als Trilogie geplant. Fluchtpunkt enthält die beiden ersten Bände, und im dritten Band wollte ich die Schwäche dieser entwurzelten Existenz, die Folge seiner Standpunktlosigkeit ist, darstellen", so Peter Weiss Anfang 1964.78
Peter Weiss selbst zeigte sich später „mit dem Ende unzufrieden, das aufgepfropft ist, um den Buch einen Abschluß zu geben"79, wie er 1964 selbstkritisch anmerkt. Das Gespräch der drei Gehenden machte dann die Ratlosigkeit des Autors wieder offenkundig, der noch weit davon entfernt war, die „künstlerische Emigration - nicht als Flucht, sondern aus innerer Notwendigkeit"80, die in der Flaschenpost einen ersten Ausdruck gefunden hatte - als einen „bewußt revolutionären Akt"81 zu begrüßen.



[Geschrieben als Seminararbeit an der Freien Universität Berlin, Prof. Jürgen Schutte, März 1995]


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Anmerkungen


Abschnitt 1

1) Reinhard Baumgart, Ein Skizzenbuch, spätgotisch.in: MERKUR, 1963, Heft 10, S.1008ff.

Abschnitt 2

2)Verlagsangabe
3)
Helmut Salzinger, zit. nach: Helmut Lüttmann, Die Prosawerke von Peter Weiss (Diss), Hamburg, 1972, S.567
4)
Zu den Einflüssen von Becketts Wie es ist (1961) auf Das Gespräch der drei Gehenden, siehe Lüttmann. a.a.O., S.587-590.
5)
Peter Weiss: Notizbücher 1960-1971 (im folgenden: NB I), Ffm 1982, S.98
6)
Lüttmann, a.a.O., S.569
7)
"Zur Anerkennung einer gesonderten Existenz gehört, daß man dem Ding einen Namen gibt". Sigmund Freud, Studienausgabe Bd.1: 31. Vorlesung: Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit. Ffm 1989, S.499
8)
Lüttmann. a.a.O., S. 568
9)
"In einer etwa wird immer nur zugeschaut, während fremde Personen [...] agieren. Der Erzählende, ganz Epiker alten Stils, beschreibt und resümiert aus sicherer Distanz; in den Berichten seiner Partner dagegen, in zwei anderen Schichten, erzählen Pathos und persönliche Verstrickung mit. [...] Der Vater einmal, das andere Mal die Mutter wirft einen Schatten über Bericht und Geschehen." Baumgart, auch in: Volker Canaris (Hrg.) Über Peter Weiss, Ffm 1970, S.55
10)
Rainer Gerlach/ Matthias Richter (Hrg.):Peter Weiss im Gespräch, Ffm 1986, S.40f.
11)
Lüttmann weist zu recht darauf hin, daß die drei Gehenden "nahezu jeden Anlaß wahrnehmen, um über ihre Vergangenheit sprechen zu können". Lüttmann. a.a.O., S. 427
12)
NB I, a.a.O, S.72
13)
vgl.: Peter Weiss im Gespräch, a.a.O, S.35

Abschnitt 3

14)
vgl.: Heinz Schlaffer. Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins in der philologischen Erkenntnis. Ffm 1990, S.15
15) Peter Weiss im Gespräch mit Michael Roloff, März 1964, a.a.O., S.39f.
16)
Lüttmann, a.a.O., S.573
17)
NB I, a.a.O, S.98
18) Peter Weiss im Gespräch mit Michael Roloff, März 1964, a.a.O., S.39f.
19)
Lüttmann, a.a.O, S.506f.
20)
Der erste, ausgesprochen gemäß Lüttmanns Zuteilung [siehe Lüttmanns Anmerkungen, S.133] von Babel, lautet: "[...] doch die Stadt draußen war schon wieder so wie sie immer war, so wie sie immer war."(S.117) Der zweite, Cabel zugewiesen: "Dieser Augenblick ist manchmal da, nachts in irgendeiner Straße, oder wenn ich eine Treppe hinuntergehe, in irgendein Haus, dann ist es so, hier gehe ich, und gleich bin ich weg, hinter mir eine große Zeitspanne, und vor mir eine große Zeitspanne, und in diesem Augenblick ein paar Schritte, auf einer Straße, einer Treppe, und schon bin ich verschwunden."(S.120f.) Der dritte Abschluß entspricht dem "hier, wo wir jetzt gehen, wo wir gehen gehen gehen" (S.123), das, den Analogieschlüssen entsprechend , Abel sagt.
21) 22) 23) Peter Weiss im Gespräch mit Michael Roloff, a.a.O., S.40f.
24)
Die Behauptung von Otto F. Best, Peter Weiss habe seinen Text "als geschlossenes, aber ins Unendliche verweisendes Werk" bezeichnet, vermögen wir nicht zu belegen. (vgl.: Otto F. Best. Im Seelenlabyrinth. in: Vom Existentialistischen Drama zum Marxistischen Welttheater: Eine kritische Bilanz. Bern/München, 1971, S.57)
25)
"Dazu ist es zu skizzenhaft, zu offen und von Unverbindlichkeit bestimmt." Best, a.a.O., S.57
26)
Noch im Klappentext von Marat/Sade liest man: "Peter Weiss hat seine Leser mit jedem Buch in Erstaunen gesetzt, hat scheinbar in jedem neuen Buch einen neuen Stil entwickelt."
27) Peter Weiss im Gespräch mit Industria, a.a.O., S.94
28) Peter Weiss im Gespräch mit Industria, a.a.O., S.95
29)
"Diese Aufführung ist wunderbar. Sie entspricht in ihrer politischen Konsequenz völlig den Intentionen des Stücks. Erstmals siegt Marats revolutionäres Prinzip. Um ein Detail zu nennen: die starke und eindeutige Darstellung der vier Sänger als progressive Volksgestalten hat mir ausgezeichnet gefallen." Peter Weiss im Gespräch mit Wolfgang Gersch, 26.März 1965, a.a.O., S.61
30)
Otto F. Best, a.a.O., S.57
31)
Wir müssen es vorläufig bei dieser Andeutung belassen, der ihre Berechtigung weniger in ihrem assoziativen Charakter, vielmehr in der Tatsache zu findet, daß die Entstehung des Gesprächs der drei Gehenden zeitlich zusammenfällt mit den ersten Überlegungen zu Marat/Sade, dessen ursprüngliche Konzeption allerdings im, wie Rischbieter 1974 sagt, "Schuttberg von Fassungen" untergegangen zu sein scheint.
32)
Lüttmann, a.a.O., S.567
33)
NB I, a.a.O, S.73f.
34)
Sigmund Freud: Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit. a.a.O., S.497
35) Peter Weiss im Gespräch mit Michael Roloff, a.a.O., S.41.
36)
Lüttmann. a.a.O., S. 568
37)
Lüttmann, a.a.O., S.567

Abschnitt 4

38)
siehe dazu: Christian Enzensberger: Die Verminderung des Menschen, in: Kursbuch 3, S.187ff., Ffm 1965
39) Peter Weiss im Gespräch mit Michael Roloff, a.a.O., S.40
40)
NB I, a.a.O., S.76
41)
42) NB I, a.a.O, S.55
43)
Goethe im Gespräch mit Eckermann, 20. April 1825
44)
Peter Weiss: Fluchtpunkt, Ffm 1965 (es 125), S.101
45)
Günter Eich: "Ich bin Schriftsteller, das ist nicht nur ein Beruf, das ist die Entscheidung, die Welt als Sprache zu sehen." Der Schriftsteller vor der Realität, in: Text und Kritik, Heft 5, Günter Eich. München 1979, S.1
46)
NB I, S.55
47)
Peter Weiss: Rekonvaleszenz, Ffm 1991, S.107
48)
1976 fand die erste große Ausstellung des Malers Weiss, in Schweden, statt; Ausstellungen einzelner Werke in den vierziger Jahren erfahren "abweisende Haltung" seitens der Kritik, allenfalls "mäßige Anerkennung". Der Filmemacher Weiss erhielt 1952 immerhin den Zweiten Preis im Wettbewerb um den Schmalfilm, zu einer Zeit also, als Weiss größer angelegte schriftstellerische Arbeiten vorläufig beendete. Soweit es die frühen schriftstellerischen Arbeiten anbelangt, sind die Hinweise auf spärliche Resonanz zahlreich. Peter Weiss äußert sich dazu relativ ausgiebig in Rekonvaleszenz, a.a.O., S.106f.
vgl.: Der Maler Peter Weiss, Berlin 1982, S.64 und S.81ff.
49)
Seinen bedeutsamen Aufsatz über Hanns Henny Jahnn, Auf der Jagd nach dem Unerreichbaren, erschienen in: Expressen, 26.7.1954, wollen wir allerdings nicht übersehen.
50)
Der Kampf um meine Existenz als Maler. In: Der Maler Peter Weiss, a.a.O., S.41
51)
"[...] und so blieben sie, mit wenigen Ausnahmen eigentlich bis heute, in Mappen, Kästen, Schränken verschlossen." Rekonvaleszenz, a.a.O.,S.106
52)
NB I, a.a.O., S.56
53)
Peter Weiss: 10 Arbeitspunkte eines Autors in der geteilten Welt. in: Karlheinz Braun: Materialien zu Peter Weiss' Marat/Sade, Ffm 1967, S.116
54)
Brief an R. Jungk vom 19.03.1940. in: Beat Mazenauer (Hrg.): Peter Weiss. Briefe an Herman Levin Goldschmidt und Robert Jungk 1938 - 1980, Leipzig 1992, S. 144
55)
Sibylle Cramer schreibt in ihrer Besprechung über Bodo Morshäusers Berliner Simulation [Vom Absterben der Erfahrung. in: DIE ZEIT, Nr.16, 13.4.1984]:
"Morshäuser beschreibt den politischen Funktionsverlust der jungen Intellektuellen in der Zeit nach der Protestbewegung. Die Melancholie seiner Simulanten wird kenntlich als resignative Haltung einer Generation, der keine produktive Beziehung zu ihrer Gesellschaft zugestanden wird. Sie ist auf die Reflexion ihrer selbst verwiesen." Solch eine Lesart müssen wir wohl auch für Peter Weiss geltend machen, dessen Melancholie sein ganzes Werk durchzieht.
56)
Peter Weiss: Flaschenpost, ausgeworfen für die Arche, von einem, der auf einer Insel im nördlichen Meere haust. in: Peter Weiss, Briefe, a.a.O., S.140.
57)
Peter Weiss: Rekonvaleszenz, a.a.O.,S.107
58) Peter Weiss im Gespräch mit Roloff, a.a.O., S.35
59)
NB I, a.a.O., S.55
60)
Peter Weiss: Rekonvaleszenz, a.a.O.,S.107
61)
NB I, a.a.O., S.56
62)
Peter Weiss: Gegen die Gesetze der Normalität. in: Rapporte. a.a.O., S.72ff.
63)
zit. nach: Günter Blöcker: Sigmund Freud in seinen Briefen. in: MERKUR, XXI. Jahrgang, Heft 7, S.689
64)
Miklos Meszöly. Eine herausfordernde Gegenwart. in: AKZENTE, Heft 3, 1967, München, S.202
65)
"Unter den Trümmern suche ich nach mir selbst", schrieb Weiss in Die Besiegten (S.120).
"Wir fragten uns", heißt es in der ÄdW, Bd I, S.183, "was das Wahre in der Kunst sei, und fanden, es müsse das Material sein, das durch die eignen Sinne und Nerven gegangen war."
66)
Es kommt nicht von Ungefähr, daß die Erzählung Abschied von den Eltern und der Roman Fluchtpunkt als Autobiographien angelegt wurden. Sie waren ein Versuch der Selbstvergewisserung und -bestätigung, - im eigentlichen Sinne (und mit gebotener Vorsicht) grundlegende Werke.
67)
NB I, a.a.O, S.57.
Peter Weiss hat die Tagebucheintragung vom 13. Oktober 1970 in gekürzter, stark überarbeiteter Form als "Unnummerierte Notizblätter.1962" nachträglich in den Notizbüchern 1960-1971 publizieren lassen [vgl. editorische Notiz von Rekonvaleszenz (1970, erschienen 1991)] Das oben angebrachte Zitat scheint davon nicht in Mitleidenschaft gezogen worden zu sein.
68) "Das Schreiben ist für mich ein solch unsicherer Prozeß, daß ich mich durch einen gutgezielten Einwand schon umwerfen lasse. Ein Fehler, der mir vorgehalten wird, nimmt gleich ein solches Ausmaß an, daß von der ganzen Arbeit nichts mehr übrigbleibt. Ich gebe das ganze auf, weil ich sehe, daß es mir unmöglich ist, etwas von dem, was mir vorschwebt, mitzuteilen" NB I, a.a.O, S.66
69) NB I, a.a.O., S.66
70) "Der offenkundige Sieg mußte von außen kommen. Unser Sieg war bloß auszuhalten, zu überleben. Der Sieg war: unsere innere Kraft zu bewahren, unsere Hoffnung, da wo wir in den Gefängnissen lagen". Peter Weiss: Die Besiegten. Ffm 1985, S.63. - Wir verstehen diesen Abschnitt als Sebstaussage.
71) Fortsetzung des Gesprächs der drei Gehenden
72) Peter Weiss: Trotzki im Exil, Ffm 1970, S.138
73) Peter Weiss: Aus dem Pariser Journal. in: Rapporte. Ffm 1968, S.86f.
"Was mich betrifft, ich werde weiterhin mein Glashaus bewohnen, wo man zu jeder Stunde sehen kann, wer mich besucht; in dem alles, was an den Plafonds und an den Wänden aufgehängt ist, wie durch einen Zauber festhält; wo ich nachts auf einem Glasbett mit Bettüchern aus Glas ruhe; wo mir früher oder später, mit dem Diamanten eingeschrieben, sichtbar wird, wer ich bin."
Andre Breton: Nadja, Ffm 1983 (BS 406), S. 15

Abschnitt 5

74) zit. nach: R.Hinton Thomas/ Keith Bullivant: Westdeutsche Literatur der sechziger Jahre, Köln 1974, S.38
75) "Wir brauchen ja Aussage auch nicht im pathetischen, abgegriffenen Sinn zu werten, sondern Aussage nur in dem Sinne, dass man Material hat." Peter Weiss in: Prosaschreiben. Eine Dokumentation des LCB, Berlin 1964, S.50
76) Rekonvaleszenz, a.a.O., S.107
77) Baumgart, a.a.O.,S.56
78) 79) Peter Weiss im Gespräch mit Roloff, a.a.O., S.39
80) Gunilla Palmstierna-Weiss, in: Büchner-Preis-Reden 1972-1983, Stuttgart 1983, S.194
81) vgl.: Hans Erich Nossack: Jahrgang 1901, in: Pseudoautobiographische Glossen, Ffm 1971, S. 123f.